Pik Lenin ist das Ziel. Komme ich da überhaupt hoch? 7134 Meter sind nicht wenig und zudem noch in Zentralasien. Logistisch wieder mal nicht die einfachste Sache. Kirgistan hat jedoch die Grenzen für Touristen geöffnet und stellt sich äußerst freundlich vor. Flüge, Transport und die Unterbringungsart in den Base Camp und ABC Lagern werden organisiert. Es ist Juni, in zwei Monaten geht es schon los. Habe ich alles bzw. was benötige ich alles nicht?
Von meinen letzten Bergabenteuern, die bei weitem nicht so hoch hinaus gingen, weiß ich, dass es wichtig ist am Berg schnell sein zu können. Natürlich ist man langsam unterwegs, sehr langsam, aber wenn möglich sollte man auch schnell sein können, um sowohl Gefahren als auch den Gipfeltag nicht unnötig lang werden zu lassen. Es werden letztendlich 43 Kilo, die ich vom Basislager auf 3400 Meter zum ABC Lager auf 4400 Meter mit einem Mal schleppe. Viel zu viel und ich benötige glatt 2 Tage für die 12 Kilometer. Das muss sich für den weiteren Aufstieg ändern und so gehe ich zwei Mal auf 5400 Meter ins erste Hochlager.
Die erste Nacht in der großen Höhe wird um halb 2 für mich zum Alptraum. Heftige Kopfschmerzen plagen mich. Weggeatmet bekomme ich sie nicht mehr, also muss eine Tablette her. Im Halbdunkeln ertaste ich den „Medizinsack“. Tabletten im erschöpften Zustand und mit zitternden Fingern bei -10 Grad aus dem Blister zu bekommen ist gar nicht so einfach. Noch schwieriger ist es jedoch die Tablette zu schlucken. Durch die konzentrierte aber heftige Atmung ist der Mund und Hals total trocken. Wasser, wo ist Wasser? Thermoskanne! Natürlich ist die zugefroren. Schnee! Den haben wir hier oben auf 5400 Meter genug. Dicke Eiskristalle stopfe ich mir nun also in den Mund, in der Hoffnung dass der Schnee sauber ist und ich mir keinen Infekt hole. Was am Pik Lenin doch schnell mal passieren kann, da die Toilettenordnung nicht wirklich geregelt ist. Eine weitere Viertelstunde kämpfe ich damit nicht im Kopf zu platzen, dann wirkt die Tablette! Nach insgesamt einer knappen Stunde kann ich wieder zurück in den Schlafsack schlüpfen und schlafe bis 7 Uhr.
Heftiger Wind hat Zelte von unvorsichtigen Bergsteigern im Hochlager in der Nacht ein wenig gesäubert. Nun sehen wir am frühen Morgen nur noch die Spitzen der vielen Geodäten aus Gletscherspalten weit ab herausragen. Wie Fußbälle kullern sie über die riesigen Gletscherfelder. Unfälle in der Nacht überschatten die Lageratmosphäre und so steige ich mit den meisten Alpinisten aufgrund eines Wettersturzes nach zwei Tagen wieder in das ABC Lager ab.
Nach gut einem halben Meter Neuschnee und 4 Tagen trauen wir uns wieder in die Hochlager. Die Akklimatisierung war für mich bitter nötig und so habe ich für den restlichen Aufstieg keine weiteren Probleme mit der Höhenkrankheit. Wochen vor meiner Abreise habe ich schon begonnen Eisen, Vitamin E und B12 zu mir zu nehmen, wie auch Kapseln mit Rosenwurz-Inhaltsstoffen um die Sauerstoffaufnahme im Blut zu erleichtern und auch eine ruhige Atmung, Konzentration und Leistungsfähigkeit zu steigern. Ich bilde mir ein, dass es hilft.
Ein Basislager auf 5400 Meter wird errichtet und das leichte Tipi Zelt verblüfft sämtliche Nationen am Berg. Kennengelernt haben sie die ungewöhnliche Zeltform schon unten, jetzt wird es zu einem geselligen großen Zelt für Pakistani, Inder, Amerikaner, Russen, Israelis, Franzosen und Deutsche. Und alle können wir miteinander Scherzen und die kommenden Tage besprechen.
Das steile Stück kurz vor dem Lager in über 6000 Meter Höhe ist geschafft und nach einer Portion Rührei falle ich erschöpft um 19 Uhr in den Schlafsack. Morgen zum Gipfel? Nie im Leben!
Zwei aus meinem Team versuchen sich am frühen Morgen, kehren jedoch nach einigen Stunden wieder zurück. Starker Schneefall und Nebel machen den Rückweg für die beiden fast unmöglich. Dass die Uhr jetzt ein wichtiger Helfer ist, rettet Ihnen das Leben. Fast auf den Meter genau können sie den zugeschneiten Weg ablaufen und umgehen somit die Gletscherspalten, Abhänge die im Nebel kaum zu erkennen sind und erleichtern auch das Auffinden des unscheinbaren Camps mit den paar Zelten.
Bis auf 6950 Meter schaffen wir es, dann sehen wir wie schlechtes Wetter und Nebel den südlichen Berghang hinaufwandert. Das ist das gleiche Wetter wie am Tag zuvor! Wir schauen uns an, schauen in Richtung Gipfel, schauen auf die Wolken, blicken zurück in Richtung Camp, schauen uns wieder an. Knapp 200 Höhenmeter unter dem Gipfel müssen wir uns geschlagen geben. Es ist schon Mittag und wenn es wirklich so schlimm wird, wie der Amerikaner am Vortag erzählt hat, dann sind wir viel zu hoch, um ohne Probleme rechtzeitig wieder im Camp und im warmen Schlafsack zu sein.
Wir folgen wieder der Uhr. Schon in der Arktis ist mir aufgefallen, wie schnell sie eine Verbindung zum Satelliten aufnimmt und sehr präzise Koordinaten anzeigt bzw. dem Track folgt. Akkuleistung hat sie noch für die nächsten 10 Stunden, somit sollten wie die 600 Meter schaffen.
Drei Tage später finde ich mich auf 3400 Meter wieder. Die letzten 72 Stunden sind wie im Flug an mir vorbeigezogen. Laufen, laufen, laufen. Wieder in die Wärme, wieder zum Rest des Teams. Wir haben uns auf halben Weg nach unten verloren, weil sowohl starker Nebel als auch unterschiedliche Geschwindigkeiten das Team geteilt haben.
Schon auf dem Rückweg im Flugzeug habe ich in den vergangenen Jahren aus dem Fenster geschaut und die nächste Tour geplant. Diesmal ist es anders. Die Unfälle am Berg in anderen Teams und die doch größere Herausforderung – körperlich als auch technisch – haben mich daran zweifeln lassen, ob man wirklich Berge besteigen muss. Ich erinnere mich jedoch an den Abend vor dem Gipfeltag zurück und weiß, dass irgendwann meine nächste Challenge kommen wird.